Immer mehr Gesundheitsprobleme: Was ist los mit den Kindern?

Die Gesundheit unserer Kinder steht auf dem Spiel – funktionelle Beschwerden und psychische Leiden nehmen zu. Über aktuelle Trends berichtet Kinderarzt Dr. Martin Karsten.

Sorge um die Kindergesundheit - ein Blick hinter die Kulissen?

Da aktuell die schlimmste Erkältungs-Welle abebbt, habe ich wieder Zeit, mich um die Dauerprobleme der Kindergesundheit zu sorgen. Denn die funktionellen Beschwerden nehmen ständig zu: Die Kinder kommen mit Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, allgemeinem Unwohlfühlen, auch mit psychiatrischen Dingen wie ADHS, Essstörungen, Magersucht.

Das ist ein komplexes Geschehen, das sich derzeit eindeutig verschärft. Kinder werden anfälliger für bestimmte Belastungsfaktoren und die Eltern gehen zunehmend mehr darauf ein. Einerseits haben wir einen ungesunden Lebenswandel der Kinder - zu wenig Sport, falsche Ernährung - andererseits haben wir das Helikopter-Verhalten der Eltern. Bei Schulkindern ist der Schuldruck enorm gewachsen. Zugleich haben die Kinder weniger Resilienz und können mit Druck weniger gut umgehen. Kleinen Kindern wird oft zu viel abgenommen, sie bleiben dann unselbständig. Sie bekommen weniger Chancen, selbständig zu werden und Dinge allein zu machen. In der Schule sind sie dann überfordert und bekommen zum Beispiel Bauchschmerzen. Dann bekommen sie die Pause, die sie brauchen, Zuwendung, Streicheleinheiten und ihr Kirschkernkissen - und es wird zum Arzt gegangen. Kinder lernen, sich in Krankheitssymptome zu flüchten.

Immer mehr Kinder mit psychischen Problemen

Hinzu kommt, dass bei diesem Helikopter-Verhalten der Eltern eine enorme Trennungsproblematik entsteht - wenn die Eltern in der Schule nicht dabei sind. Die Ängste äußern sich wiederum in Bauchweh und ähnlichem. Ein Anruf genügt und das Kind wird sofort abgeholt. Als ich ein Schulkind war, saß man dann erstmal bei der Schulsekretärin und bekam einen Tee. Meist konnte man dann wieder zurück in die Klasse gehen. Jetzt habe ich jeden Tag fünf Kinder in der Praxis, die mit Bauchschmerzen aus der Schule genommen wurden und im Wartezimmer fröhlich herumturnen. Ich fasse den Kindern auf den Bauch, mache den Eltern zuliebe eventuell eine Blutentnahme. Wenn ich dann etwas feststelle, sind es eher Zufallsbefunde. Also eines von hundert Kindern hat wirklich mal etwas Ernsteres. Darum muss ich natürlich aufmerksam hinsehen. Aber für rezidivierende, diffuse Bauchschmerzen ohne Red Flags gibt es keinen Biomarker. Da hilft nur das Gespräch. Ich rede mit den Eltern darüber, was los sein könnte: Trennungsängste, schulische Überforderung, zu wenig Bewegung, gibt es regelmäßigen Stuhlgang? Natürlich habe ich für all das zu wenig Zeit und ich bekomme es auch nicht bezahlt. Aber drei Minuten zuhören, drei Minuten sprechen - das hilft häufig schon. Oft sind es kleine Dinge, mit denen man den Eltern klarmachen kann, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Stressfaktoren um das Kind herum und funktionellen Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen.

Die Auswirkungen der Pandemie

Vergessen dürfen wir auch nicht die Corona-Zeit, diese zwei, drei Jahre, die den Kindern in der Entwicklung fehlen - gerade auch beim Thema Trennungsängste. Die Kinder waren zu Hause und müssen sich jetzt wieder mit der Schule auseinandersetzen. Die allgemeine Gesundheit der Kinder ist ziemlich angeschlagen. Sie haben zu wenig Bewegung und Sport. In meiner Praxis in einer eher guten Gegend sind mit 15 Jahren nur noch ein Drittel in einem Sportverein. Übergewicht hat bei den Kindern  enorm zugenommen. Die Auswirkungen auf Kinder haben durch die Pandemie noch mal einen großen Schub bekommen.

Bei Kindern trifft die Gleichung eindeutig zu: Arm, wenig Ressourcen, schlechte Bildung - mehr Krankheit. Aber die wohlhabenden mit den Helikopter-Eltern leiden auch - zum Beispiel unter Überforderung und Stress. Es ist verrückt: Wenn es neue Studien über das schlechte Bildungsniveau der Kinder gibt, sorgt sich nicht die Mutter aus Berlin-Neukölln, deren Kind in der vierten Klasse gerade mal seinen Namen schreiben kann, sondern die aus Berlin-Zehlendorf, wo das Kind eben eine Klasse übersprungen hat, Berliner Fechtmeister ist und dreisprachig aufwächst.

Mehr Aufklärung und Vorsorge in der Kindermedizin nötig

Fazit: Die einen Eltern machen zu viel, die anderen machen zu wenig, auch weil ihnen die Möglichkeiten fehlen. Prävention kommt insgesamt zu kurz. Und für eine Chancengleichheit tut der Staat einfach zu wenig. Mir scheint, sie war noch nie so schlecht wie heute.

Ich bin also alles in allem sehr in Sorge um die Gesamtgesundheit unserer Kinder.