Innere Medizin: Individueller, jünger, diverser

Was gab es Neues beim diesjährigen Internistenkongress? Aktuelle esanum-Fragen dazu beantwortet der Kardiologe Prof. Dr. Harald Darius vom Vivantes Klinikum Berlin.

Interview mit Prof. Dr. Harald Darius zum DGIM-Kongresss

esanum: Prof. Darius, der Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) stand in diesem Jahr unter dem Leitthema "Die Grenzen der Inneren Medizin". Wie ist das Motto zu verstehen?

Prof. Darius: Die Grenzen der Medizin werden immer weiter verschoben – weil Therapie und Diagnostik effektiver werden und wir immer mehr individualisierte Therapien haben und On-Target-Therapien mithilfe von molekularbiologischen Methoden möglich werden. Evaluationen des sogenannten "Patient related outcome", sind extrem wichtig. Doch bei all diesen Möglichkeiten dürfen die Patienten und deren Angehörige nicht aus dem Blick geraten. Es gehört zu den Grenzen der Medizin, dass wir unsere Technik nicht über den Patienten stülpen, sondern die Möglichkeiten mit den Menschen besprechen, denen letztendlich geholfen werden soll. Dazu gehört, Ziele zu vereinbaren, aber auch gemeinsam Umkehrpunkte zu bestimmen, an denen es keinen Sinn macht, eine Therapie fortzusetzen.

esanum: Wie wurde darüber unter den Kollegen diskutiert?

Prof. Darius: Alle sehen das im Prinzip ähnlich, aber das einfühlsame Vorgehen scheitert nicht selten an den zeitlich begrenzten Möglichkeiten im Praxis- und Klinikalltag. Es braucht viele Stunden gemeinsamer Gespräche mit Patienten und Angehörigen. Dazu muss die sprechende Medizin gegenüber den hochtechnisierten Diagnostik- und Therapiemaßnahmen aufgewertet werden.

esanum: Die DGIM ist für ihre enorme thematische Bandbreite mit Abdeckung aller Fachbereiche der Inneren Medizin bekannt. Es gab mehr als 750 Fachvorträge. Können Sie einige Beiträge herausgreifen, die Sie für besonders wichtig halten?

Prof. Darius: Diese enorme Spannbreite zeichnet die Innere Medizin und daher auch den DGIM-Kongress aus. Ich fand einen Vortrag des klinischen Neurowissenschaftlers Prof. Dieter Braus über die Freigabe der Cannabinoide besonders interessant. Das wird vielfach als weiterer Schritt der Liberalisierung unserer Gesellschaft gefeiert. Aber es birgt durchaus Risiken. Denn die Hirnreifung ist erst bis zum Alter von 27 Jahren abgeschlossen. Sodass die Freigabe laut Prof. Braus eigentlich nur für Personen über 27 Jahre erfolgen dürfte. Das ist allerdings weltfremd, wenn man sich allein mal die Berliner Clubszene anschaut. Nichtsdestotrotz treten bei Jüngeren durchaus erhebliche Nebenwirkungen auf: Herr Braus nannte das amotivationale Syndrom, also Antriebslosigkeit. Die Reizschwelle kann sinken, es kann bei prädisponierten Personen zu epileptischen Anfällen, sogar zu paranoiden Psychosen kommen. Das zugespitzte Fazit war: entweder, man gibt Cannabinoide erst ab 27 Jahren frei oder man baut mehr psychiatrische Betten auf. In Ländern, die Cannabinoide freigegeben haben, etwa der in Schweiz, Holland und in skandinavischen Ländern, hat sich die Zahl der primären Psychosen unmittelbar danach verdoppelt bis verdreifacht.

esanum: Was war noch besonders spannend?

Prof. Darius: Covid war natürlich weiter im Fokus. Angefangen bei den neuen Varianten, aber auch Long Covid, wurde besprochen. Es gibt von der CDC, dem Center for Disease Control der USA und der europäischen Behörde verschiedene Definitionen. Sie beziehen sich auf die Zeit nach der initialen Infektion. Alles, was länger als drei Monate anhält, wird Long Covid genannt. Im Vordergrund der Symptome steht die ausgeprägte Erschöpfung. Doch es gibt keinen klinischen oder Laborparameter, der bei der Diagnostik beispielsweise in Spezialsprechstunden helfen könnte. Wir beschränken uns also im Wesentlichen darauf, andere Ursachen für die Symptomatik, auch zum Beispiel den Geruchs- und Geschmacksverlust, auszuschließen und die Patienten supportiv zu begleiten.

esanum: Wurde auch über das Reizwort Impfnebenwirkungen gesprochen?

Prof. Darius: Ja, darüber wurde ausführlich gesprochen. Es gibt gute Daten, vor allem aus Israel, zum Beispiel zu den Myokarditiden. Nach der Erstimpfung gab es bei zwei von 100 000 Patienten eine Myokarditis. Bei der zweiten Impfung waren es 14 von 100 000, mit einer Häufung bei jungen Männern. 95 Prozent der Myokarditiden verliefen milde. Es gibt auch gelegentliche Hautphänomene. Aber insgesamt sind sehr wenige Nebenwirkungen festgestellt worden.

esanum: Ihr fachlicher Schwerpunkt ist die Kardiologie. Was waren in Wiesbaden die wichtigsten kardiologischen Themen?

Prof. Darius: Die Herzinsuffizienz wurde intensiv diskutiert. Die SGLT2- Inhibitoren, das Dapagliflozin und Empagliflozin, sind mittlerweile in den europäischen Leitlinien für die Herzinsuffizienz nach vorn gerückt. Sie waren ursprünglich als Diabetespräparate zugelassen. Mittlerweile weiß man, dass sie bei Diabetikern und bei Nicht-Diabetikern mit einer Herzinsuffizienz zu einer hervorragenden Reduktion der Krankenhausaufenthalte und der Mortalität führen. Und das Allerneuste ist: Das ist nicht nur bei reduzierter Pumpleistung so, sondern auch bei Herzinsuffizienz mit erhaltener Pumpfunktion. Dass diese Patientengruppe, bei denen im Wesentlichen nur eine Leistungsschwäche und einige echokardiographische Besonderheiten zu diagnostizieren waren, so sehr profitiert, wurde stark debattiert. Auch der Umgang mit Medikamenten wurde in den Leitlinien neu festgelegt. Früher hat man bei Herzinsuffizienz ein Medikament nach dem anderen allmählich gesteigert. Dieses Prinzip ist nun obsolet. Der Patient soll alle wichtigen Medikamente von Anfang an bekommen, auch gleich nach einem Dekompensations-bedingten Krankenhausaufenthalt, selbst wenn es jeweils nur eine Anfangsdosierung ist. Der Hausarzt oder Facharzt hat dann die Aufgabe, die Dosierungen allmählich je nach Verträglichkeit anzupassen. Das heißt, man titriert die Mittel nicht mehr ewig auf, sondern geht früh und gleichzeitig mit den vier relevanten Substanzgruppen vor – also dem Betablocker, dem ACE-Hemmer oder alternativ Sacubitril/Valsartan, einem Mineralocorticoid Antagonisten und einem SGLT2 Inhibitor.

esanum: Welche Eindrücke haben Sie so beeindruckt, dass Sie sie als "Take Home Messages" vermitteln möchten?

Prof. Darius: Die Digitalisierung hat stark zugenommen, sodass uns Daten von Millionen von Patienten für Analysen zur Verfügung stehen. Das sind im Wesentlichen Daten aus den USA oder aus skandinavischen Ländern, weniger aus Deutschland, denn wir haben ja mit dem Datenschutz unsere Probleme. Dadurch ist die individualisierte Medizin auf dem Vormarsch. Was mich außerdem besonders beeindruckt hat: die große Anzahl an jungen Kolleginnen und Kollegen, die sehr engagiert dort aufgetreten sind. Viele von ihnen mit Migrationshintergrund - was die Diversität der Gesellschaft spiegelt. Der DGIM-Kongress ist in der gesellschaftlichen Realität angekommen.

Das Interview hat esanum im Nachgang an die Sendung Best of Congress: EASL/DGIM geführt. Ab sofort ist die On Demand-Version verfügbar.

In dem esanum Fortbildungsformat für Fachärzte berichten ausgewählte Experten von nationalen und internationalen Fachkongressen und präsentieren neben den wichtigsten Updates und Debatten ihre persönlichen Highlights. Im Interview Entwicklungen bei Hepatitis sprachen wir mit Prof. Teufel zu den Highlights vom EASL-Kongress 2022.

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Mehr Best of in 2022
Am 19.10. findet die nächste Best-of-Congress-Folge statt. Im Fokus stehen dieses Mal drei Kongresse: ESC, EASD und DGFN.