Ketamin-augmentierte Psychotherapie bei schweren Depressionen und Angststörungen
Wie ein Anästhetikum neue Hoffnung bei therapieresistenten Depressionen und Angststörungen bietet und welche Chancen die Ketamin-augmentierte Psychotherapie für Patienten eröffnet.
Ketamin und die Anwendung in der Psychotherapie
Ketamin, ursprünglich als Anästhetikum entwickelt, hat in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit als vielversprechendes Mittel zur Behandlung von therapieresistenten Depressionen (TRD) und anderen psychiatrischen Erkrankungen erlangt. Aktuell kann Ketamin als einziges psychedelische Arzneimittel legal verwendet werden.1
Während Ketamin allein eine rasche Symptomlinderung bewirken kann, deutet die Evidenz darauf hin, dass die Kombination mit Psychotherapie, bekannt als Ketamin-augmentierte Psychotherapie (KAP), zu nachhaltigeren und umfassenderen Behandlungsergebnissen führen kann.1
Seit einigen Jahren wächst auch die Zahl an Publikationen zum Einsatz von Ketamin im therapeutischen Kontext.2 Ist das nur ein neuer Hype aus alten Zeiten oder ist etwas dran am neuen Chic der Drogentherapie? Prof. Dirk Revenstorf stellte aktuelle Daten und Analysen in seinem Vortrag auf dem M.E.G.-Jahreskongress vor.
Hintergrund und Wirkmechanismen
Im Allgemeinen wirken Psychedelika wie Psilocybin, Meskalin, LSD, MDMA oder Ketamin auf das Gehirn, indem sie die Serotonin- und Dopamin-Ausschüttung und damit auch das Erregungsniveau im Gehirn verändern.
Ketamin wirkt primär als NMDA-Rezeptor-Antagonist, was zu einer Erhöhung der Glutamatfreisetzung und einer nachfolgenden Aktivierung des AMPA-Rezeptors führt. Die NMDA-Rezeptor-Blockade hat auch Auswirkungen auf die Schmerzweiterleitung. Außerdem können diese Mechanismen die synaptische Plastizität fördern und die neuronale Konnektivität erhöhen, was möglicherweise die antidepressive Wirkung erklärt.3 Darüber hinaus erhöht Ketamin den Spiegel des Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF), einem Protein, das das Wachstum und Überleben von Neuronen unterstützt.
Eine Studie konnte zeigen, dass sich durch Ketamin (und andere psychedelisch wirkende Substanzen) eine erhöhte Aktivität bestimmter Hirnregionen, insbesondere dem okzipital-parietalen Bereich, verzeichnen lässt.4
Diese neurophysiologischen Prozesse rufen dissoziative Effekte hervor und beeinflussen das Filtern äußerer Reize als auch die Integration sensorischen Inputs. Außerdem kommt es zu einer Erhöhung der inneren Reizproduktion, sodass meist erweiterte körperliche Erfahrungen gemacht werden können und eine erhöhte Anzahl innerer Bilder entsteht. Insgesamt erfolgt das Erleben und Verarbeiten mentaler Prozesse imaginativer und assoziativer. So können Patienten während der Sitzung ein "Time-out" vom Alltagsdenken, eine Unterbrechung von Negativität und den Zugang zu einem erweiterten Selbstverständnis und Ich-Bezug im Verhältnis zur Welt erfahren.1 Das kann den Raum für neue Bewertungen öffnen.
Cahart-Harris et al. (2014) sprechen davon, dass das Gehirn normalerweise „Modelle“ der Umwelt entwirft, um Handlungen und Reaktionen der Umwelt vorhersagen zu können. Psychoaktive Substanzen könnten an dieser Stelle eingreifen und die Entropie im Gehirn erhöhen und damit den beschriebenen Zerfall der Struktur und Grenzen des Ichs erklären.5
Ketamin vs. SSRIs
Traditionelle selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) blockieren die Wiederaufnahme von Serotonin oder Dopamin. Im Allgemeinen wirken diese Medikamente eher dämpfend auf die Gefühle von Patienten. Im Gegensatz dazu verstärken Psychedelika wie Ketamin die synaptische Signalübertragung und fördern den Spiegel an BDNF - damit wirken sie eher als Verstärker von Gefühlen.
Einige Metaanalysen zeigen zudem, dass traditionelle Antidepressiva kaum besser als Placebo wirken.6,7,8 Dieses Thema wird in der Wissenschaft nach wie vor kontrovers diskutiert. Fest steht, dass die Wirksamkeit von SSRIs stark vom Schweregrad der Depression abhängen könnte, dass der Placebo-Effekt eine große Rolle bei der Behandlung von Depressionen haben kann und dass die Wirksamkeit von SSRIs individuell stark variieren dürfte.
SSRIs sind in ihrem Einsatz also begrenzt wirksam. Steigende Fallzahlen therapiebedürftiger Patienten sowie lange Wartezeiten auf Therapieplätze machen verständlich, warum neue-alte Hoffnungsträger wie Psychedelika (wieder) erforscht werden.
Indikationen und Kontraindikationen
Die KAP ist in Deutschland derzeit off-label für TRD, Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), Substanzgebrauchsstörungen, Angststörungen und Zwangsstörungen legalisiert.
Kontraindikationen für den Einsatz von Ketamin umfassen psychotische Erkrankungen, schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Substanzabhängigkeit sowie eine Schwangerschaft. Es ist zudem zu bemerken, dass es sogenannte Non-responder gibt, die gar nicht von der Ketamintherapie profitieren können.
Klinische Anwendung
Ketamin kann intravenös, intramuskulär, sublingual oder intranasal verabreicht werden. Die intravenöse Verabreichung gilt als Standard.9 Die therapeutische Begleitung vor und nach der Sitzung ist für eine nachhaltige Integration der Erfahrung und Förderung der Akzeptanz der Ergebnisse relevant.
Die psychotherapeutische Begleitung bei der KAP erfolgt meistens mit einer KVT, manchmal auch mit einer achtsamkeitsbasierten Verhaltenstherapie oder mit einer tiefenpsychologischen Begleitung. Die Therapiesitzungen können vorbereitend nachfolgend und/oder während der Ketaminsitzung erfolgen.10
Studien zeigen eine signifikante Abnahme von Depressions- und Angstparametern nach einer KAP im Vergleich zu vor der Therapie.11 Schwer depressive Patienten zeigten nach einer KAP außerdem signifikante Verbesserungen der Symptome gegenüber einer TAU (treatment as usual).9
Patienten berichten nach Ketamin-augmentierter Psychotherapie von großen Veränderungen in ihrem Leben, einer veränderten Sichtweise sowie der Wandlung teilweise jahrelang bestehender innerer Konflikte.
Auch die Ketamin-augmentierte Hypnotherapie kann ein Ansatz sein. Die hypnotische Trance ähnelt in manchen Aspekten Träumen und psychedelischen Erfahrungen und kann therapeutisch gezielt und unterstützend eingesetzt werden, um regressiv oder biografisch zu arbeiten sowie Ressourcen zu aktivieren.
Langzeitwirkung
Die antidepressive Wirkung von Ketamin hält wenige Tage bis Wochen an. Ähnliche Daten, aber von weniger Studien, zeigen sich auch für Angststörungen, Zwänge sowie bei bipolarer Depression.
Eine therapeutische Begleitung kann die Effekte verlängern, jedoch sind Rückfälle häufig.9
Sicherheit und Nebenwirkungen
Ketamin kann eine Reihe von Nebenwirkungen verursachen, darunter Dissoziation, erhöhter Blutdruck und Herzfrequenz, Übelkeit und Erbrechen, Schlaflosigkeit, Schlafprobleme sowie Angst und Panik. In seltenen Fällen können auch psychotische Symptome auftreten.
Bei längerfristiger Anwendung kann es zu Problemen mit der Blase kommen, da Ketamin toxisch auf Blasenzellen wirkt.12
Fazit
Die KAP stellt einen vielversprechenden Ansatz zur Behandlung von TRD und anderen psychiatrischen Erkrankungen dar. Während die Evidenzlage weiterhin wächst, deuten die vorliegenden Daten darauf hin, dass die Kombination von Ketamin mit Psychotherapie zu nachhaltigeren und umfassenderen Behandlungsergebnissen führen kann. Eine sorgfältige Patientenauswahl, Aufklärung, Überwachung und psychotherapeutische Begleitung sind entscheidend für eine sichere und effektive Anwendung der KAP in der klinischen Praxis.
Weitere Studien müssen den langfristigen Mehrwert der KAP noch untersuchen. Zwar zeichnet sich in der bereits vorherrschenden Datenlage eine gewisse therapeutische Potenz ab, inwiefern der Ketamin-Einsatz aber langfristige Effekte hervorbringt und wie das Sicherheitsprofil dazu genau aussieht, muss näher untersucht werden. Die bisherigen Ergebnisse rechtfertigen jedoch die weitere Erforschung, besonders bei therapieresistenten Fällen.
M.E.G. Kongress 2025, Vortrag „Ketamin-augmentierte Psychotherapie (KAP)“ von Prof. Dirk Revenstorf, 30.03.2025
- Dore, J. et al. (2019). Ketamine Assisted Psychotherapy (KAP): Patient Demographics, Clinical Data and Outcomes in Three Large Practices Administering Ketamine with Psychotherapy. Journal of psychoactive drugs, 51(2), 189–198.
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- Schartner, M. M. et al. (2017). Increased spontaneous MEG signal diversity for psychoactive doses of ketamine, LSD and psilocybin. Scientific reports, 7(1), 46421.
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- Castellani, D., Pirola, G. M., Gubbiotti, M., Rubilotta, E., Gudaru, K., Gregori, A., & Dellabella, M. (2020). What urologists need to know about ketamine-induced uropathy: A systematic review. Neurourology and urodynamics, 39(4), 1049–1062. https://doi.org/10.1002/nau.24341