Der Behandlungserfolg steht und fällt mit der Adhärenz

Eine hohe Adhärenz ist essenziell für den Erfolg einer oralen Krebstherapie. Welche Faktoren sind vom Praxisteam bei der Betreuung geriatrischer Patienten besonders zu beachten?

Eine hohe Adhärenz ist essenziell für den Erfolg einer oralen Krebstherapie. Welche Faktoren sind vom Praxisteam bei der Betreuung geriatrischer Patienten besonders zu beachten?

Die chronische lymphatische Leukämie (CLL) ist mit einer altersstandardisierten Inzidenzrate von 4,1 pro 100.000 Einwohnern die häufigste adulte Leukämieform.1 Sie weist im Vergleich mit anderen Malignomen ein überdurchschnittlich hohes medianes Erkrankungsalter auf, das bei Männern bei 72 Jahren und bei Frauen bei 75 Jahren liegt.2 Folglich treffen auf einen relevanten Teil des Patientenkollektivs die Definitionskriterien für geriatrische Patienten zu: eine eine typische Multimorbidität des höheren Lebensalters (überwiegend ≥ 70 Jahre) oder ein Alter ≥ 80 Jahre bei alterstypisch erhöhter Vulnerabilität (Frailty)3.

Das geriatrische Assessment erfolgt in einem mehrstufigen Prozess mit geeigneten, bedarfsgerecht und individuell ausgewählten Instrumenten.4 Die onkologische Therapiewahl orientiert sich weniger am kalendarischen Alter, sondern neben den genetischen Risikofaktoren und der Nierenfunktion vorrangig an der Komorbidität, die z. B. durch den CIRS-G-Score ermittelt wird.2

Orale Krebstherapie: ansprechende Option auch für geriatrische Patienten

Im Vergleich zur parenteralen Medikation bieten orale Krebsmedikamente sowohl für die Erkrankten als auch ihre Behandler einige Vorteile, u. a.sind sie, bei vergleichbarer Wirksamkeit, bequemer einzunehmen und werden daher von vielen Patienten bevorzugt.5 Auch für geriatrische Patienten ist die orale Krebstherapie eine ansprechende Option. Eine Taskforce der Internationalen Gesellschaft für geriatrische Onkologie (SIOG) hat in ihren 2017 publizierten Empfehlungen eine Reihe von potenziellen Vor- und Nachteilen der oralen Therapieregimes im Vergleich zur parenteralen Behandlung zusammengetragen (s. Tab. 1).5

Tab.1: Potenzielle Vorteile und Nachteile der oralen vs. parenteralen Krebstherapie bei älteren Patienten5

Vorteile

Patientenkomfort:

  • weniger Klinikbesuche
  • zeitliche und örtliche Flexibiliät der Applikation

Verbesserte Patientenautonomie:

  • besseres subjektives Gefühl der Krankheitskontrolle
  • gestärkter Sinn der eigenen Mitwirkungsmöglichkeit
  • weniger im Krankenhaus verbrachte Zeit Verlängerte Wirkstoffexposition

Nicht-invasiv:

  • vermeidet Morbidität durch langfristigen intravenösen Zugang
  • keine Schwierigkeiten mit der intravenösen Punktion Reduzierter stationärer und ambulanter Versorgungsaufwand
Nachteile

Größeres Risiko für Polypharmazie und Wechselwirkungen
Bioverfügbarkeit:

  • möglicherweise beeinträchtigte Effektivität bei Patienten mit gestörter Magenabsorption oder -motilität

Die Anwendungshinweise können kompliziert erscheinen, insbesondere für Patienten mit kognitiver Beeinträchtigung und unzureichender sozialer Unterstützung:

  • Nicht-Adhärenz reduziert die Medikamentenwirkung und erhöht die Gefahr für ein Therapieversagen und einen frühzeitigen Therapieabbruch
  • Überadhärenz erhöht das Risiko einer lebensbedrohlichen Toxizität und Therapieintoleranz

Weniger Rückhalt durch geringeren Kontakt mit anderen Patienten:

  • kann potenziell zur sozialen Isolation führen
  • mögliche Überforderung durch die direkte Therapieverantwortung

Geringere medizinische Kontrolle:

  • höheres Risiko für Medikationsfehler
  • weniger Toxizitätsmonitoring

Erfordert verlässliche Einnahme durch den Patienten, sorgfältige Beratung, Schulung im sicheren Umgang mit Zytotoxizität und Unterstützung beim schnellen Identifizieren, Bewältigen und Berichten von Nebenwirkungen

 

BTKi-Monotherapie ermöglicht durchgängig orale Applikation

Statt der früher dominierenden Chemoimmuntherapie nehmen heute orale Medikamente für die zielgerichtete Therapie einen zentralen Stellenwert im Behandlungsspektrum der CLL ein. Die Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren Acalabrutinib und Ibrutinib sind als einzige Medikamente zur Monotherapie sowohl in der Erstlinie als auch im Rezidiv zugelassen. In der Erstlinie können die BTKi zudem wahlweise mit dem Anti-CD20-Antikörper Obinutuzumab kombiniert werden.2

Dagegen kommt der Einsatz des BCL-2-Inhibitors Venetoclax als Monotherapie nur als zweite oder dritte Wahl (abhängig vom Vorliegen genetischer Risikofaktoren) in Betracht.6,7 In den Therapiealgorithmen der aktuellen Onkopedia-Leitlinie wird Venetoclax ausschließlich in Kombination mit einem (intravenös zu applizierenden) Anti-CD20-Antikörper aufgeführt. Die Leitlinienautoren empfehlen explizit für komorbide Patienten „präferenziell“ eine orale Dauertherapie mit einem BTKi oder alternativ eine Kombinationstherapie mit Venetoclax/Obinutuzumab.2

Um die gewünschte Wirksamkeit der oralen Krebstherapie zu gewährleisten und die Behandlungsergebnisse nicht zu gefährden, ist eine hohe Adhärenz essenziell. Gerade bei älteren Patienten führt eine schlechte Adhärenz leicht zu suboptimalen Therapieergebnissen, die in erhöhter Rezidivgefahr, verringerter Lebensqualität und vermehrten Arztbesuchen sowie Krankenhauseinweisungen resultieren können.

Adhärenz erfordert besonderes Augenmerk des Praxisteams

Das behandelnde Praxisteam sollte deshalb ein besonderes Augenmerk auf die Therapietreue ihrer Patienten legen, wobei deren Erfassung und Beurteilung durchaus herausfordernd sein kann. Wie zahlreiche Publikationen zeigen, sind die Adhärenz-Barrieren bei einer oralen onkologischen Therapie in der geriatrischen Patientenpopulation komplex und hängen u. a. vom Patienten selbst, von der Medikation, vom Behandlungsteam und von systemischen Faktoren der Versorgung ab.8 Die SIOG-Taskforce hat sechs Adhärenz-determinierende Bereiche definiert und mögliche Interventionsstrategien aufgezeigt (s. Tab. 2).

Tab. 2: Potenzielle Hindernisse und vorgeschlagene Interventionsstrategien zur Verbesserung der Adhärenz5

Adhärenz-Faktoren Potenzielle
Hindernisse
Interventionsstrategien
Patientenbezogene Faktoren Alter, Geschlecht, Bildung, (Gesundheits-) Kompetenz, Familienstand, kognitive Funktionen, Komorbiditäten, Gesundheitsüberzeugungen, mentaler Gesundheitszustand, Non-Adhärenz in der Vorgeschichte, Alkohol- und Substanzmissbrauch Selbstmanagement-Programme wie z. B. Patientenedukation, Toxizitätsmonitoring, integrierte Verhaltens-, Motivations- und Schulungsinterventionen; vorgefüllte Medikamentenboxen oder Blister-Verpackungen kombiniert mit technologischen Strategien (SMS, audiovisuelle Anrufe, etc.)
Altersspezifische Faktoren kognitive Defizite; visuelle/ auditive/funktionelle Störung; Komorbiditäten; geriatrische Syndrome; erhöhte Therapietoxizität; Polypharmazie; finanzielle Belastung gemäß der patientenbezogenen Faktoren; Regime vereinfachen; Adhärenz-Programme; Mitwirkung und Schulung von Bezugspersonen/Pflegekräften; häusliche Pflege; Aufnahme in eine Altenpflegeeinrichtung
Sozioökonomische Faktoren sozioökonomischer Status, familiäre Unterstützung und Betreuung, Pflegequalität, soziales Stigma der Erkrankung, Medikamenten- und Behandlungskosten, Beschäftigungsstatus staatlich subventionierte oder von der Krankenkasse bezahlte Medikamente; Zuweisung an den Sozialdienst; nicht erstattungsfähige Kosten reduzieren
Krankheitsbezogene Faktoren Schwere der Erkrankung, unkontrollierbare Symptome, psychologische Komponente, Krankheitsdauer, die Kognition/das Verstehen beeinträchtigende Krankheit Patientenedukation; Symptommanagement; kontinuierliche Beobachtung und Neubewertung
Therapiebezogene Faktoren Therapietoxizität/Nebenwirkungen/Dauer, Komplexität des Regimes, Wirksamkeit des Medikaments Regime vereinfachen; klare, gedruckte Anweisungen zur Verfügung stellen; zeitlich abgestimmte Folgerezepte
Versorgungsbezogene Faktoren Arzneimittelversorgung und -verfügbarkeit, Patient-Versorger-Beziehung, insuffiziente oder unklare Arzneimittelinformationen, Kommunikationsbarrieren, regelmäßige Überwachung staatlich subventionierte oder von der Krankenkasse bezahlte Medikamente; adäquate Kommunikation; partizipative Entscheidungsfindung; Schulung des Gesundheitspersonals

Besonderes Problem: Polypharmazie

Die möglichen Barrieren sollten im individuellen Fall möglichst bereits im Vorfeld der Therapieentscheidung ausgelotet werden. Dabei besteht ein Kernproblem bei älteren Patienten in der häufig anzutreffenden Polypharmazie, die durch chronische Komorbiditäten bedingt ist und die Therapieadhärenz verringern kann. Neben der Reduzierung der Medikamentenliste auf das notwendige Minimum und Berücksichtigung anderer relevanter Adhärenz-Faktoren (s. Tab. 2), sollte insbesondere auch auf mögliche Defizite im eigenen ärztlichen Kommunikationsverhalten geachtet werden. Laut einer Metaanalyse erhöhen Ärzte mit schlechten Kommunikationsfähigkeiten das Risiko für Nicht-Adhärenz bei ihren Patienten um 19 %.9

Eine gute Nachricht bezüglich der Adhärenz lieferte kürzlich eine retrospektive Kohortenstudie, in der die Adhärenz und Persistenz von Patienten mit hämatologischen Malignomen untersucht wurde: Ob ein orales Medikament einmal täglich oder zweimal täglich eingenommen werden muss, scheint für die Therapietreue im Alltag keine Rolle zu spielen.10


Referenzen:

  1. Nennecke A et al. Inzidenz und Überleben bei Leukämien in Deutschland nach aktuellen standardisierten Kategorien. Bundesgesundheitsbl 2014;57(1):93-102
  2. Wendtner CM et al. Onkopedia-Leitlinie Chronische Lymphatische Leukämie (CLL). Stand: September 2020
  3. Sieber CC. Der ältere Patient – wer ist das? Internist 2007;48(11):1190-4
  4. S1-Leitlinie „Geriatrisches Assessment der Stufe 2“. AWMF-Register-Nr. 084-002. Stand: 28. August 2019
  5. Mislang AR et al. Adherence to oral cancer therapy in older adults: The International Society of Geriatric Oncology (SIOG) taskforce recommendations. Cancer Treat Rev 2017;57:58-66
  6. Fachinformation Calquence®, aktueller Stand
  7. Fachinformation Venclyxto®, aktueller Stand
  8. Yap AF et al. Systematic review of the barriers affecting medication adherence in older adults. Geriatr Gerontol Int 2016;16(10):1093-101
  9. Haskard Zolnierek KB, DiMatteo MR. Physician Communication and Patient Adherence to Treatment: A Meta-analysis. Med Care 2009;47(8):826-34
  10. Patel K et al. Impact of dosing frequency (once daily or twice daily) on patient adherence to oral targeted therapies for hematologic malignancies: a retrospective cohort study among managed care enrollees. J Oncol Pharm Pract 2019;25(8):1897-906

Abkürzungen:
BCL-2 = B-Zell-Lymphom-2 (Protein)
CIRS-G = Cumulative Illness Rating Scale for Geriatrics
CLL = chronische lymphatische Leukämie

DE-41608/21