Blinde wieder sehend machen?

Körber-Preis-Träger 2020 hat sich zum Ziel gesetzt, Erblindeten das Augenlicht zurückzugeben – erste klinische Tests mit seiner neuen Methode der Gentherapie sind bereits gestartet.

Zellen zu Netzhautzellen umprogrammieren

Zugegeben, Blinde wieder sehend zu machen, das gab es doch schon einmal, oder? Den mit einer Million Euro dotierten Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft 2020 erhält aber dennoch in diesem Jahr ein anderer, nämlich der ungarische Mediziner Botond Roska. Roska hat mit seiner Arbeit die Augenheilkunde revolutioniert und zählt zu den weltweit führenden Fachleuten für die Erforschung des Sehens und der Netzhaut. Er hat sich zum Ziel gesetzt, Erblindeten das Augenlicht zurückzugeben.

Die meisten Seherkrankungen gehen auf erbliche oder altersbedingte Defekte in der Netzhaut (Retina) zurück. Roska und KollegInnen haben in einer Pionierarbeit die etwa hundert unterschiedlichen Zelltypen in der Retina aufgespürt und deren komplexes Zusammenspiel bei der Signalverarbeitung ergründet. Dabei gelang es, zahlreiche Netzhauterkrankungen auf genetische Defekte in einzelnen Zellen zurückzuführen. Nun arbeitet der Wissenschaftler daran, diese grundlegenden Einsichten für PatientInnen fruchtbar zu machen und deren Erkrankungen mit Gentherapien zu lindern oder zu heilen. Einen echten Durchbruch schaffte Roska, als er einen Zelltyp im Auge so umprogrammierte, dass dieser die Funktion von defekten Lichtrezeptor-Zellen übernehmen konnte. Blinde Netzhäute konnte er damit wieder lichtempfindlich machen – und die klinische Erprobung bei blinden Menschen hat bereits begonnen.

Virtuoses Spiel mit den Genen

Botond Roska, 50, studierte zunächst Cello an der Musikakademie in Budapest, musste seine Musikerkarriere aber wegen einer Verletzung aufgeben und absolvierte im Anschluss ein Medizin- und Mathematikstudium. Er promovierte als Neurobiologe in Berkeley, USA, und forschte dann als Harvard Fellow auf den Gebieten der Genetik und der Virologie in Harvard weiter. Von 2005 bis 2017 leitete Roska eine Forschungsgruppe am privaten Friedrich Miescher Institut für biomedizinische Forschung in Basel. Zusammen mit Professor Hendrik Scholl wurde er im Dezember 2017 Gründungsdirektor des Instituts für Molekulare und Klinische Ophthalmologie Basel, IOB.

Die Vorstellung, zu erblinden, ist für viele Menschen noch schlimmer als beispielsweise eine Erkrankung an Alzheimer oder Krebs. Zudem nehmen Augenerkrankungen stark zu, weil Menschen immer älter werden. Weltweit sind geschätzt etwa 36 Millionen Menschen blind und über eine Milliarde leiden an einer erheblichen Sehbehinderung.

Lange Zeit verliefen Innovationen in der Augenheilkunde frustrierend langsam. "Das liegt daran, dass GrundlagenforscherInnen oft die therapeutischen Bedürfnisse in den Kliniken nicht genau genug kennen", erklärte Roska. Unter anderem, weil ihnen der unmittelbare Kontakt zu den PatientInnen fehlt. Die Wissenschaftsteams in den Kliniken hingegen seien meist nur unzureichend über den neuesten Stand der Grundlagenforschung informiert.

Um diese Lücke zu schließen, verfolgt das IOB seit 2017 einen interdisziplinären Ansatz, bei dem "GrundlagenforscherInnen und KlinikerInnen täglich Hand in Hand zusammenarbeiten". Ein wesentlicher Faktor des Erfolges vom IOB ist der multidisziplinäre Zugriff und die Kombination von Methoden aus Genetik, Molekularbiologie, Neurowissenschaften und Informatik. Traditionell hatten MedizinerInnen die Netzhaut des Auges vorwiegend als Gewebe untersucht. Roska und KollegInnen hingegen machten sich die Mühe, erstmals intensiv die rund hundert Zelltypen in der Netzhaut und deren funktionelles Zusammenwirken zu studieren. Das Team lokalisierte und kartierte zudem Gendefekte, die zu Augenleiden führen. Damit schufen die Forschenden einen Fundus an neuem Wissen, der die Augenheilkunde auf eine neue Basis stellt.

Komplexer Aufbau der Retina als Ausgang

"Die Netzhaut ist ein nach außen verlagertes Stück des Hirns. Ihr komplexes Netzwerk aus Nervenzellen verarbeitet die Signale ähnlich wie ein Computer", so Roska. Der komplizierte Aufbau macht die Netzhaut besonders anfällig und sie ist von allen Organen des Körpers am stärksten von genetischen Erkrankungen betroffen. Der häufigsten genetischen Augenerkrankungen, der Retinitis pigmentosa, gilt Roskas besondere Aufmerksamkeit.

Bislang gilt Retinitis pigmentosa generell als unheilbar. Botond Roska will nun eine von ihm bereits 2008 erprobte Heilmethode anwenden: Mittels Genfähren werden lichtempfindliche Protein-Kanäle, die aus Algen, Pilzen oder Bakterien stammen, in noch intakte Zellen der Netzhaut eingebaut. Diese übernehmen dann die Aufgabe der Lichtrezeptorzellen und erlauben ein zumindest teilweise wiederhergestelltes Sehen. Eine klinische Studie mit fünf Testpersonen läuft bereits.

Hoffnung auch bei AMD

Die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) ist eine weitere Erkrankung der Photorezeptoren. Diese Krankheit betrifft nur die zentrale Region der Netzhaut. Das Team von Botond Roska hat vor kurzem eine neue Technologie entwickelt, die es in Zukunft ermöglichen könnte, die Sehfunktion in der degenerierten Fovea von AMD-Erkrankten wiederherzustellen. Die Forschenden sensibilisierten menschliche Netzhautzellen für infrarotes Licht, das mithilfe einer Spezialbrille auf die Fovea projiziert werden kann.

Als ein entscheidendes Hilfsmittel dürfte sich dabei Roskas neuester Erfolg erweisen. Ihm ist es erstmals gelungen, in Petrischalen eine vollständige künstliche Netzhaut zu züchten. Aus einer Hautzelle des Patienten wächst über diverse gentechnische Schritte in etwa 30 Wochen ein Netzhaut-Organoid. Diese Organoide enthalten ähnliche Zelltypen mit denselben oder verwandten Funktionen wie die ausgewachsene Netzhaut. Weist der Patient, dem die Hautprobe entnommen wurde, Gendefekte in der Retina auf, so finden sich diese Defekte auch in den künstlich gezüchteten Organoiden. An diesen Mini-Netzhäuten können die Forschenden nun testen, ob bestimmte Gentherapien funktionieren und dabei unterschiedliche Ansätze ausprobieren.