Migräne: "Hausarztpraxen sind primärer Anlaufpunkt"

Viele Hausärzte fühlen sich nicht ausreichend vorbereitet auf die Behandlung von Kopfschmerz- und Migränepatienten. Im Interview nennt DMKG-Präsident Dr. Tim Jürgens Lösungsansätze.

Interview mit DMKG-Präsident PD Dr. med. Tim Jürgens

Dr. med. Tim Jürgens ist Facharzt für Neurologie und seit 2021 Chefarzt der Klinik für Neurologie am KMG Klinikum Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern. Vorher war er Leiter des Kopfschmerzzentrums in Rostock. Seit 2021 ist er zudem Präsident der Deutschen Migräne-und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG). Im Interview geht er auf die Ergebnisse einer Umfrage zu Kopfschmerz und Migräne unter 300 Hausärzten ein.

esanum: Dr. Jürgens, Probleme in der Versorgung bei Kopfschmerz und Migräne liegen dank Ihrer Initiative auf dem Tisch. Warum gibt es bei dieser häufigen Erkrankung so viele Defizite?

Dr. Jürgens: Spezialsprechstunden gibt es vornehmlich an Universitäten und die finanzielle Ausstattung solcher Ambulanzen ist oft nicht üppig. Trotz des hohen Bedarfs kann man diese nicht unendlich ausbauen. Wir propagieren daher ein dreistufiges Modell. Die primäre Anlaufstelle ist die Hausarztpraxis. Dort beginnt man idealerweise eine Attackentherapie. Dann wird eventuell eine Prophylaxe eingeleitet. Und wenn es komplizierter ist, erfolgt die Überweisung zum Spezialisten. Eine Weiterleitung zum Schmerzzentrum folgt dann meist, wenn Komplikationen wie refraktäre oder chronische Verläufe auftreten.

esanum: Von wie vielen Erkrankten ist hier die Rede?

Dr. Jürgens: Migräne liegt laut WHO bei den beeinträchtigenden Erkrankungen auf Platz zwei. Etwa 16 Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer in Deutschland leiden an Migräne. Die überwiegende Mehrheit von ihnen haben aber nur wenige Attacken im Jahr und begeben sich nicht in Behandlung. Ich denke es sind 10 bis 30 Prozent, die wegen Kopfschmerzen in die Hausarztpraxis gehen.

esanum: Ist es richtig, sich nicht behandeln zu lassen und die Attacken einfach auszuhalten?

Dr. Jürgens: Nein. Allein die wirtschaftlichen Schäden, die entstehen, wenn jemand erkrankt, also vermindert leistungsfähig zur Arbeit geht und eventuell Fehler macht, sind enorm. Und die Schmerzen ignorieren oder nach eigenem Gutdünken zu behandeln, kann zu einer Einnahme von falschen Medikamenten führen, die wiederum gesundheitsschädigende Folgen haben.

esanum: Was waren für Sie überraschende Ergebnisse der Umfrage unter 300 Hausärztinnen und Hausärzten?

Dr. Jürgens: Lange Wartezeiten haben mich nicht verwundert. Die sind bekannt. Unrealistische Erwartungen der Patienten fand ich aber interessant. Als behandelnder Hausarzt versucht man dann, diesen Erwartungen gerecht werden. Das führt sicher dazu, dass diese Erkrankten oft weiter geschickt werden in die Spezialsprechstunde - statt dem Patienten, der Patientin zu erklären, dass deren Erwartungen so nicht aufgehen können. Unzureichende Kostenerstattung hat mich etwas verwundert. Eigentlich ist das System darauf ausgelegt, eine ausreichende Kostenerstattung zu sichern. Wegen der Verordnung von Kopfschmerzmedikamenten wird sicher keiner in Regress genommen. Was aber wohl stören kann, ist im Prüffall die Begründungspflicht.

esanum: Vielleicht bezieht sich die Kritik auf neue, teure Therapien?

Dr. Jürgens: Das kann sein. Bisher sagte man: wir versuchen es erstmal mit den herkömmlichen Medikamenten. Und erst wenn diese nicht erfolgreich sind, greifen wir zu den neuen Antikörpertherapien. Neuere Studien legen allerdings nahe, dass die Antikörpertherapien besser vertragen werden und auch wirksamer sind. Deswegen befindet sich der entsprechende Verschreibungs-Algorithmus derzeit in Überprüfung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss.

esanum: Wie können Hausärztinnen und Hausärzte seitens der Spezialisten besser unterstützt werden?

Dr. Jürgens: Die DMKG möchte für mehr Aufklärung sorgen. Wir wollen mit unserer Attacke-Kampagne das Bewusstsein schärfen, dass Migräne auch in der Hausarzt- bzw. der Facharztpraxis gut behandelt werden kann. Wir stellen dazu Videos, Tutorials, Webinare ins Netz, stellen auch Printmedien zur Verfügung, sowie Patienten-Flyer mit Informationen über verschiedene Therapien. Und wir bieten vor Ort Fortbildungen an und auch Angebote auf Kongressen.

esanum: Wie soll Expertenwissen schneller zu den hausärztlichen Kolleginnen kommen?

Dr. Jürgens: Wir bieten strukturierte Fortbildungen an - virtuell und künftig auch wieder in Präsenz, um das BMKG-Fortbildungszertifikat Kopf- und Gesichtsschmerzen zu erwerben. Auf der Ebene der Hausärzte können spezifische, vorbeugende Therapien eingeleitet werden und Patienten früher an Prophylaxen kommen. Wenn in den Haus- und Facharztpraxen schneller und breiter geholfen werden kann, müssen viele nicht mehr zur Spezialambulanz. Nach der Fortbildung wird man als Experte auf unserer Homepage gelistet. Wir haben bereits über hundert dieser Zertifikate ausgestellt, der Run darauf ist sehr groß. Parallel haben wir das DMKG-Kopfschmerzregister, in das die Kollegen, die dieses Zertifikat haben, ihre Patienten einspeichern können - was auch vergütet wird.