Künstliche Intelligenz im Medizinstudium

KI und Algorithmen haben bereits im Studium das Potential, die medizinische Ausbildung zu revolutionieren und damit den Arztberuf grundlegend zu verändern. Doch wie kann das am besten gelingen?

KI im Medizinstudium: vielversprechend, aber ungenutzt

Übersetzt aus dem Französischen

Künstliche Intelligenz, robotergestützte ChirurgiePflegeroboter, Quantified Self, vernetzte Objekte, etc. – Robotik und Algorithmen haben bereits einen festen Platz in der medizinischen Praxis eingenommen. Doch sind medizinische Fakultäten für die digitale Wende im Gesundheitswesen bereit? Leider nein.

Was Form und Inhalt angeht, hat sich das Medizinstudium seit über einem Jahrhundert nur wenig verändert: immer die gleichen Fächer und die gleichen Vorlesungen. Wenn man von KI spricht, dann eher außerhalb des Unterrichts. Dennoch haben diese neuen Technologien das Potential, die medizinische Erstausbildung zu revolutionieren und damit letztlich den Arztberuf grundlegend zu verändern. Es muss nur genutzt werden.

Xiaoyi: Eine Studentin (fast) wie jede andere

Xiaoyi ist eine chinesische KI, die das Auswahlverfahren zum Medizinstudium mit Bravour bestanden hat.1 Der Algorithmus beendete die Prüfung in nur einer Stunde - seine “menschlichen” Kommilitonen dagegen brauchten zehn Stunden. Mit 456 Punkten lag Xiaoyi weit über dem Landesdurchschnitt und erreichte sogar 96 Punkte mehr als die Mindestpunktzahl, die für die Zulassung erforderlich war.

Beängstigend, aber: Xiaoyi wird niemals eine richtige Ärztin werden. Obwohl sie die Lehrpläne auswendig kennt, kann sie dennoch kein Prostatakarzinom oder Leukämie diagnostizieren. Denn Xiaoyi ist – wie jede KI – zu eintönig. 

Das Beispiel aus China zeigt allerdings, dass die Medizin von einer Maschine erlernt werden kann. Könnten KIs in absehbarer Zeit sogar in der Lage sein, Medizin zu unterrichten? Ja – und nein. "Menschliche" Professoren werden wahrscheinlich weiterhin die Grundlagen der medizinischen Ausbildung vermitteln, während die KIs die Assimilation durch adaptives Lernen übernehmen.

Die Versprechen des adaptiven Lernens

Adaptives Lernen (AL) ist ein pädagogisches Konzept, das auf den Erkenntnissen der kognitiven Neurowissenschaften beruht. Das Ziel: Den Lernweg an die Kompetenzen, Fähigkeiten und Ziele jedes einzelnen Lernenden anzupassen. Ein Unterricht “à la carte” also, aber ohne die Notwendigkeit eines Lehrenden pro Schüler.2

Die Idee ist einfach: Die Maschine testet die Studierenden, um zu erfahren, wie ihr Gedächtnis funktioniert und welche kognitiven Muster sie haben. Wenn der Studierende gut im Fachbereich Innere Medizin ist, aber schlecht in Kardiologie, dann versucht die KI zu verstehen, warum das Gehirn des Studierenden diese Schwierigkeiten hat. Mithilfe der Neurowissenschaften wendet sie anschließend die am besten geeignete Lernmethode an.

Viele Fakultäten haben mit MOOCs (Massive Online Open Course) begonnen, d. h. mit digitalen Lernplattformen, auf denen die Lernenden Online-Kurse belegen und anschließend ihr Wissen testen können. Die Gesundheitskrise hat ihre Entwicklung stark beschleunigt. Leider stellen nur wenige Fakultäten in Europa AL auf ihren MOOC-Plattformen zur Verfügung. 

Solche Lehrmittel sind in den englischsprachigen Ländern viel weiter entwickelt. Eine australische Studie an Studierenden der Mathematik ergab, dass die Einbindung von AL in einen MOOC die Erfolgsquote bei Prüfungen um 18% erhöhte und die Zahl der Kursabbrecher um 47% senkte.3

Bisher gibt es nur wenige Forschungsarbeiten über die Verwendung von AL im Medizinstudium. Dies dürfte sich jedoch schnell ändern. Die englischsprachige Version von Elsevier verfügt über eine Schnittstelle namens Cerego. Sein Algorithmus schlägt dem Studierenden einen personalisierten Lernpfad vor, indem er ihm das nächste zu bearbeitende Modul vorschlägt.

Cerego ist sogar in der Lage, das Profil des Gedächtnisses des Studierenden zu untersuchen, z. B. um festzustellen, wie lange es dauert, bis ein Wissen vergessen wird. Der Algorithmus kann also vorschlagen, ein Modul kurz vor Ablauf dieser Frist noch einmal zu wiederholen. Auf einem Dashboard kann der Studierende zu jedem Zeitpunkt sehen, wo er steht, und seine Fortschritte visualisieren.

Kellmann et al. erprobten einen Lehrpfad mit AL für den Unterricht im Studiengang dermatologische Histopathologie an der kalifornischen Universität UCLA. Es wurden signifikante Verbesserungen bei den erzielten Noten beobachtet.4

AL im Rahmen einer Simulation

Es ist anzumerken, dass man AL auch ohne KI durchführen kann. Dies ist bei Simulationssitzungen der Fall, bei denen jedoch ein Lehrender einer begrenzten Gruppe von Studierenden zur Verfügung gestellt werden muss. Die Kosten sind zwangsläufig limitierend. 

Ebenfalls im Bereich der Simulation können die sogenannten Serious Games stark von den Beiträgen des AL profitieren. Diese Art von Videospiele stellen einen klinischen Fall dar, um die Argumentation der Lernenden zu bewerten. Derzeit wird das Szenario im Falle eines Fehlers nicht oder nur geringfügig weitergeführt und der Lernende muss sich sofort selbst korrigieren. Die KI würde es ermöglichen, die Szenarien ständig weiterzuentwickeln, je nach den Entscheidungen der Lernenden, und so ein realistisches Eintauchen in die Welt zu ermöglichen.

KI im Mittelpunkt der medizinischen Ausbildung

Die KI kann also ein pädagogisches Instrument sein. Sie sollte aber auch zum Gegenstand des Unterrichts werden. Laut einer Odoxa-UNESS-Umfrage fühlen sich 79% der Medizinstudierenden hilflos und unzureichend für den Einzug der KI in ihre Berufspraxis ausgebildet.5

Die Tatsache, dass an den europäischen medizinischen Fakultäten Universitätsdiplome eingeführt werden, die sich mit KI befassen, sollte eine gute Nachricht sein. Die schlechte Nachricht ist, dass die KI nur über kostenpflichtige und freiwillige Ausbildungen gelerht werden kann. Das Risiko besteht darin, dass die Kluft zwischen den "KI-freundlichen" Ärztinnen und Ärzte und denjenigen, die ihr oft aus Mangel an Wissen misstrauen, noch größer wird.

Um KI frühzeitig in die ärztliche Ausbildung zu integrieren, bedarf es einer Annäherung an die Studiengänge für Ingenieurinformatik. Dies schlägt übrigens auch die WHO in ihrem Bericht über KI im Gesundheitswesen vor: "Regierungen und Unternehmen sollten die Umwälzungen antizipieren, die sich auf der Arbeitsebene ergeben werden, insbesondere die Ausbildung von Gesundheitspersonal, das sich mit der Nutzung von KI-Systemen vertraut machen muss."6

Es sollten daher drei Arten von Maßnahmen unverzüglich umgesetzt werden:

  1. Die Etablierung eines eigenen Studienfachs "Medizin und KI", in dem die Studierenden über den technologischen Fortschritt, ihre Anwendung in der täglichen Praxis und die allgemeinen Auswirkungen auf den Arztberuf geschult werden sollen.
  2. Das adaptive Lernen sollte weitgehend demokratisiert werden.
  3. Die medizinischen Studiengänge sollten systematisch an Studiengänge anlehnen, die auf bestimmte Bereiche der Informatik spezialisiert sind.

Referenzen:

  1.  Enrique Moreira – «Un robot chinois réussit son concours de médecine» (Les Echos, 2017)
  2. Thomas Blanc – «L’adaptive learning, définition et idées reçues» (Tactileo, 2018)
  3. Sharma N, Doherty I, Dong C.: Adaptive Learning in Medical Education: The Final Piece of Technology Enhanced Learning? Ulster Med J. 2017 Sep;86(3):198–200.
  4. Kellman PJ. et al.: Adaptive and perceptual learning technologies in medical education and training. Mil Med. 2013 Oct;178(10 Suppl):98–106.
  5. Enquête en ligne réalisée fin 2018 auprès de 752 professionnels de santé (médecins, pharmaciens, aides-soignants, sages-femmes), 978 étudiants et 258 enseignants (médecine, pharmacie, odontologie et sports).
  6. Ethics and governance of artificial intelligence for health. WHO guidance (2021)